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Moderne Jäger und Sammler: Überlebende einer Steinzeit?



Eingeborenenstämme, die als Jäger und Sammler ein kulturell “einfaches” Leben führen, können nicht als Überlebende einer vergangenen “Steinzeit” betrachtet werden.

Diese Auffassung vertritt die Anthropologin Anna Roosevelt vom Field Museum of Natural History in Chicago, wie die Zeitschrift New Scientist berichtet.1 Ihre Existenzweise sei vielmehr ein Erbe von kultivierteren Vorfahren, die durch irgendwelche Lebensumstände gezwungen waren, ihren Lebensstil zu ändern und zum Jagen und Sammeln zurückzukehren. Solche Stämme seien damit keinesfalls als Modelle einer prähistorischen Menschheit zu werten.

Die Gründe für die Rückkehr zum “primitiveren” Lebensstil können sehr unterschiedlich sein. Ein krasses Beispiel bieten die Indianer aus Südamerika. Nach der Eroberung Südamerikas durch die Spanier gerieten sie in Isolation und verloren dadurch ihre hochstehende Kultur.

William Balee von der Tulane University führt ein anderes Beispiel an: Die Guajá aus Brasilien sind einer der letzten Stämme der Ebenengebiete Südamerikas, die ausschließlich durch Jagd ihr Überleben sichern. Sie stammen – so Balee – von Vorfahren ab, die eine gut ausgebildete Landwirtschaft betrieben. Ein Indiz dafür sei die Verwendung von Wörtern für Kulturpflanzen wie Mais, Yamswurzel oder Süßkartoffeln. Wahrscheinlich wurden die Guajá durch eine von weißen Siedlern eingeschleppte Krankheit dezimiert. Einige Stämme überlebten diese Epidemie nicht, in anderen ging die Bevölkerungszahl so sehr zurück, daß die Verbliebenen die Landwirtschaft fortan nicht mehr betreiben konnten und schließlich die Nutzpflanzen verloren. Die Bororo von Matto Grosso ereilte offenbar ein ähnliches Schicksal. Auch diese Jäger und Sammler bauten früher Mais an und stellten Keramikwaren her.

Keramiker vor “Präkeramikern”?

Im Gebiet der Wasúsu, einem heutigen “Steinzeit”-Indianerstamm in Brasilien, entdeckten Archäologen mehrere hundert Pfund Keramikscherben wie die hier abgebildeten Stücke2. Die heutigen Wasúsu und ihre Nachbarn, die Nambicuara – zwei der primitivsten Stämme Brasiliens – formen keine Tongefäße, und jegliche Keramik ist ihnen sogar völlig unbekannt!

Tausende von Tonscherben, die von einer hohen Kunst der Keramikherstellung zeugen, sind zusammen mit anderen archäologischen Funden (z.B. Felsengravierungen von der Sonne und Fruchtbarkeitssymbole) von einer Gruppe von “Paläo-Indianern” hinterlassen worden, die die Felsenhöhle Abrigo do Sol (“Herberge der Sonne”) vor mehreren tausend Jahren benutzten.

Die heutigen Wasúsu (1979 nur noch 55 Stammesangehörige) sowie die Nambicuara, Jäger und Sammler der brasilianischen Mato Grosso, könnte man, wenn man sie archäologisch klassifizieren würde, u.U. als “Präkeramiker” bezeichnen – ein Volk, das die Herstellung der Keramik “noch nicht” gelernt hat. Und doch sind sie Nachkommen bzw. Nachfolger von einem Volk, das kunstvoll verzierte Keramik herstellte!

In allen diesen Fällen liegen offenkundig keine evolutionären Hintergründe für die Lebensform bzw. die “Kulturstufe” vor. Einfachere Kulturen können auf Verluste früherer Fähigkeiten zurückzuführen sein, oder es erzwangen neue Umweltbedingungen einen Wechsel der Lebensweise. Beobachtungen dieser Art begründen darüber hinaus Zweifel an der Vorstellung einer Primitivität der vorzeitlichen Menschheit, die an vermeintlich “primitiven” Kulturformen wie der Steinkultur abgelesen wird. Doch Steinkultur ist nicht notwendigerweise Ausdruck einer geistig noch unterentwickelten Menschheit (im Sinne der Abstammungslehre), sondern mag – wie es auch bei heutigen Steinkulturen offenbar der Fall ist – ein Spiegelbild der durch die Umwelt bedingten Lebensverhältnisse sein.


Abb. 5

Abb. 5: Steinkultur ist nicht notwendigerweise Ausdruck einer noch unterentwickelten Menschheit, sondern mag – wie es auch bei den heutigen Steinkulturen (z.B. Inuit) der Fall ist – ein Spiegelbild der durch die Umwelt bedingten Lebensverhältnisse sein!


 

Genau dies gibt H. Pleticha, der Herausgeber des 1988 erschienenen Buches “Morgen der Menschheit” zu bedenken.3 Er berichtet von einer aufschlußreichen Beobachtung des amerikanischen Anthropologen und Archäologen Lewis R. Binford an Eskimostämmen (Inuit). Diese hinterließen nämlich an verschiedenen Lagerplätzen, die sie turnusmäßig aufsuchten, ganz unterschiedliches Geräteinventar, je nachdem, ob sie dort der Großwildjagd, der Kleintierjagd, dem Fischfang oder dem Sammeln pflanzlicher Nahrung oblagen, was alles wiederum jeweils von der Jahreszeit abhing.


Abb. 6

Abb. 6: Maori unterwegs nach Neuseeland


 

Pleticha schreibt:

“Rein archäologisch betrachtet, hätten die betreffenden Lagerplätze also ganz verschiedenen Kulturen oder Kulturvarianten angehören müssen, und doch handelte es sich um Lagerplätze eines und desselben Stammes. Gilt dies auch für unterschiedliche Jäger- und Sammlerkulturen?

Was dies angeht, so fehlt uns ja die zusätzliche völkerkundliche Information. Wir verfügen nur über das rein archäologische Material und können nun nicht mehr ausschließen, daß zeitgleiche unterschiedliche Kulturen oder Kulturvarianten möglicherweise Lebensäußerungen einer und derselben vorgeschichtlichen Menschengruppe waren, die auf ihren Wanderungen weite Strecken durchmaß, an verschiedenen Lagerplätzen unterschiedlichen Tätigkeiten nachging und dementsprechend ganz verschiedene Geräte benützte.

Vielleicht liegt hierin die Erklärung dafür, daß an manchen urgeschichtlichen Fundstätten immer wieder Varianten einer bestimmten Kultur mit anderen Varianten eben dieser selben Kultur abwechseln. Auf jeden Fall stellt die Frage, die Binford aufwirft, eine neue Herausforderung an die Wissenschaft dar, und möglicherweise läßt sie ihrerseits die gängige Systematik zweifelhaft erscheinen.”


Abb. 7

Abb. 7: Landung der Maori auf der Nordinsel von Neuseeland Auf dem Nordteil der Nordinsel war die Fortsetzung ihrer Kultur als Pflanzenzüchter klimatisch gut möglich, nicht jedoch auf der Südinsel, die später besiedelt wurde.

In ähnlicher Weise kann die kulturelle Umstellung der Maori nach deren Besiedlung von Neuseeland (um 1000 nach Christus) verstanden werden. In ihrer früheren Heimat, dem tropischen Inselgebiet um Tahiti, waren sie – den klimatischen Bedingungen entsprechend – Pflanzenzüchter gewesen, was nach evolutionistischen Vorstellungen als höhere, weiterentwickelte Kulturstufe gewertet wird im Vergleich zum Wildbeutertum. Auf Neuseeland, weit außerhalb der Tropen gelegen, erlaubten die klimatischen Verhältnisse aber nur im nördlichen Teil der Nordinsel die Fortsetzung des Pflanzertums. In den südlicheren Teilen gingen die Maori dagegen innerhalb einer Generation zum Jagen und Sammeln über, also zu einer im evolutionistischen Sinne primitiveren Wirtschaftsform. Unter den dortigen Lebensbedingungen war das einfach effektiver. Dieser ziemlich abrupt erfolgte Übergang ist folglich weder als Degeneration noch als Rückschlag zu werten, sondern als sinnvolle, durchdachte Strategie. Kulturen sind Strategien zur Gestaltung und Bewältigung des Daseins – so der Völkerkundler L. Käser. Das evolutionäre Modell habe sich in der Ethnologie nicht durchgesetzt, sondern zu eklatanten Widersprüchen geführt.4


Abb. 8

Abb. 8: Ausbreitung der Maori von Tahiti nach Neuseeland


 

C. H. Hapgood geht noch weiter:5

“Die Idee einer einfachen Linearentwicklung der Zivilisation von der paläolithischen Kultur durch aufeinanderfolgende Stadien des Neolithikums, Bronze- und Eisenzeit muß aufgegeben werden. Heute finden wir primitive Kulturen auf allen Kontinenten in Koexistenz mit der fortgeschrittenen modernen Gesellschaft. . . Wir nehmen nun an, daß . . ., während in Europa paläolithische Völker noch ausharrten, anderswo auf Erden fortgeschrittenere Kulturen auch existierten.”


Abb. 9

Abb. 9: Geschoßspitzen heutiger Ureinwohner Australiens, wie sie mit traditioneller Steinbearbeitungstechnik aus gläsernen Isolatoren (von Fernsprechleitungen) und Flaschenscherben hergestellt werden.8

 

S. Hartwig-Scherer faßt jüngere Befunde zum Werkzeuggebrauch der Menschen der Altsteinzeit (Paläolithikum; Homo erectus) wie folgt zusammen:

“Zunehmend wird diskutiert, inwieweit der Typ der jeweiligen Steinwerkzeuge von den äußeren Bedingungen (Ernährungsgewohnheiten, Nahrungsangebot, vorhandenes Rohmaterial, jeweiliger Verwendungszweck, Stabilität der Umwelt, Stammestraditionen) und nicht von einem Evolutionsverlauf bzw. der Intelligenz der Hersteller abhängt. Dem entsprechen auch Studien an rezenten Völkern mit Steinkulturen: Altsteinzeitliche Arbeitsplätze können mit Leichtigkeit mit heutigen Pendants, etwa in Australien, verglichen werden. Aus dem Typ des gefundenen Werkzeugs läßt sich nicht auf die geistigen Kapazitäten des Herstellers schließen.”6

Das Leben des Neandertalers und des frühen anatomisch modernen Menschen sei – so diese Autorin – wesentlich durch eiszeitliche Klimate geprägt und weise Ähnlichkeiten zur Eskimo-Kultur auf.7

(Zusammengestellt von Reinhard Junker und Richard Wiskin; Illustrationen: Johannes Weiss und Edith Sulzenbacher.)

Literatur

  1. S. Pain (1993): Modern hunter-gatherers no guide to Stone Age past. New Scientist 137, No. 1861, S. 8.
  2. W. Jesco von Puttkamer (1979): Stone Age Present meets Stone age Past. National Geographic Magazine, Jan. 1979.
  3. H. Pleticha (Hg., 1988): Morgen der Menschheit. Gütersloh: Bertelsmann.
  4. Die Informationen über die Maori wurden einem Vortrag des Völkerkundlers Dr. Lothar Käser entnommen, den er auf der 9. Hauptkonferenz der Studiengemeinschaft Wort und Wissen im Mai 1992 gehalten hat. Eine Kassettenaufnahme kann bestellt werden bei Frau Sigrid Hinck, Am Hammergraben 13-15, D-51503 Rösrath. (Best.-Nr. HK 92/2)
  5. C. H. Hapgood (1979): The Maps of the Ancient Sea Kings: Evidence of advanced Civilisation in the Ice Age. Turnstone Press, London.
  6. S. Hartwig-Scherer (1991): Paläanthropologie und Archäologie des Paläolithikums. In: Scherer, S. (Hg.) Die Suche nach Eden. Neuhausen, S. 82.
  7. Ebenda S. 78f. Weitere Informationen dazu finden sich bei M. Brandt: Gehirn und Sprache. Fossile Zeugnisse zum Ursprung des Menschen. Studium Integrale, Berlin, 1992, besonders S. 72-80.
  8. M. Obenland (1991): Archäologie und Urgeschichte der Genesis. In: Scherer, S. (Hg.): Die Suche nach Eden. Neuhausen-Stuttgart, S. 136-167.