Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 10. Jg. Heft 2 - September 2003
Druckerfreundliche Ansicht dieser Seite


Evolution des Menschen ohne Zwischenglieder?

von Sigrid Hartwig-Scherer & Siegfried Scherer

Studium Integrale Journal
10. Jahrgang / Heft 2 - Oktober 2003
Seite 86 - 88


Bislang galt in der populären und der wissenschaftlichen Urmenschenforschung das Hauptaugenmerk „dem“ menschlichen Vorfahren. Nun soll die fast 150 Jahre alte fieberhafte Suche nach dem fehlenden Zwischenglied (missing link) plötzlich ein Ende haben, weil „das“ missing link aus prinzipiellen Gründen eigentlich gar nicht zu erwarten sei. Diese erstaunliche Idee des bekannten deutschen Paläanthropologen Friedemann SCHRENK löst nur scheinbar die brennenden Fragen der Humanevolution, schafft hingegen neue Fragen und offenbart die Probleme, die entstehen können, wenn Spekulationen als Tatsachen gelehrt werden.




Erstaunliche Pressemeldung: „Den Urahn gab es nicht!“

Diese Überschrift in „Bild der Wissenschaft“ (Juli 2003, S. 40-43) beschreibt die Situation treffend. Der Autor, Thorwald EWE, meint: „Jahrzehnte lang waren Paläanthropologen auf der Suche nach „dem“ gemeinsamen Vorfahren von Menschenaffe und Mensch. Heute müssen sie erkennen: Sie haben ein Phantom gejagt. Der Stammbaum der Hominiden ist in Wahrheit ein verfilztes Gestrüpp.“ Friedemann SCHRENK, einer der bedeutendsten deutschen Paläanthropologen, wird mit folgenden Worten zitiert: „Auch ich habe jahrelang diese Idee des „Missing Link“ im Kopf gehabt. Wenn ich das rückblickend analysiere, kommt es mir vor, als wäre ich regelrecht verblendet gewesen!“1

Im Rheinischen Merkur vom 19.12.02 schrieb SCHRENK: „Es gab kein missing link, sondern eine Verflechtung geografischer Varianten der ersten Vormenschen in Zeit und Raum entlang der Grenzen des schrumpfenden tropischen Regenwaldes.“ Er fordert ein „Umdenken ... weg von den einfachen Verwandtschaftslinien hin zu komplexen zeitlich-räumlichen Entwicklungsmodellen.“

Zum Inhaltsverzeichnis 

Sperriger Fossilbefund

Wie kann es dazu kommen, daß der bekannte deutsche Paläanthropologe sich derart radikal von der bisherigen Lehrbuchmeinung verabschiedet? Ein wesentlicher Grund dürfte wohl in der zunehmenden Unvereinbarkeit des Fossilbefundes mit geltenden Evolutionsmodellen zu suchen sein. Wer die Fossilfunde der letzten Jahre auf morphologische Besonderheiten hin betrachtet, wird nicht umhin kommen, den auffallenden Trend hin zur mosaikartigen Merkmalsverteilung zu erkennen. Was die ersten frühen Hominidenfunde nur erahnen ließen, konnte mit zunehmendem Fundreichtum nicht mehr übersehen werden.

Der erste Australopithecus africanus-Fund zu Beginn des letzten Jahrhunderts, ein jugendliches Exemplar mit affenähnlichem Gehirnabdruck und kleinem Hirnschädel, war zunächst wegen der ausgesprochen affen-unähnlichen („menschlichen“) Zähne und der intermediären Lage des Hinterhauptlochs interessant für die Humanevolution (die seit DARWIN hitzig geführte und lange Debatte, ob das Gehirn oder der aufrechte Gang zuerst evolvierte, schien damit zugunsten des letzteren entschieden). Bei „Lucy“, dem ersten Teilskelett der Art Australopithecus afarensis, sollten schon erhebliche Merkmalskonflikte (z.B. Kniegelenk mit zweibeinig aufrechten Anpassungen und Klettereigenschaften der vorderen Gliedmaßen) die Wissenschaftler beschäftigen: je nach Merkmalskomplex wurde eine andere Stammbaumabfolge notwendig (vgl. Stud. Int. J. 3, 35-37). Man zweifelte sogar an der Homogenität des Materials (manche Paläanthropologen glaubten nicht an eine, sondern an zwei oder drei Arten).

Schließlich bescherte uns das letzte Jahrzehnt einige sehr erstaunliche Fossilfunde. Da trat z.B. der ältere A. anamensis mit seinen bipeden (zweibeinigen) Anpassungen des Kniegelenkes, dem Kraftgriff der Hände fürs Klettern und dem extrem ursprünglich-affenähnlichen Kieferaufbau in Konkurrenz mit Lucy“ (vgl. Stud. Int. J. 2 , 58-64; 3, 6065). Mit Ardipithecus ramidus – die Unterart kadabba ist mehr als 5 MrJ alt – erhielt die Entstehung des aufrechten Gangs (geschlossen aus der Position des Hinterhauptlochs) ein noch höheres Alter, gleichzeitig besitzt diese Art einen affenartig anmutenden dünnen Zahnschmelz und kleine (d.h. nichtaffenähnliche) Eckzähne (Stud. Int. J. 8, 88-89). Und schließlich die Überraschung schlechthin (wie der Name A. garhi übersetzt heißt; vgl. Stud. Int. J. 6, 77-81): eine an den aufrechten Gang angepaßte Beinkonstruktion ist kombiniert mit Vorderextremitäten ähnlich des Orangs – sozusagen ein zweibeiniger Schwinghangler (bipeder Brachiator). Auch das Alter wurde immer weiter hinausgeschoben: Orrorin, der mit 6 MrJ angeblich älteste Zweibeiner mit schimpansenähnlichen Zähnen, führt laut Entdecker direkt zur menschlichen Linie (Stud. Int. J. 8, 85-88), und Sahelanthropus, eine interessante Mischung aus Gorilla-artigen, menschenähnlichen und einzigartigen Schädelmerkmalen kommt sogar auf 7 MrJ (Stud. Int. J. 9, 91-93). Wer von diesen potentiellen Vorfahren macht nun das Rennen – der älteste, der „zweibeinigste“, oder die jüngeren mit etwas mehr menschenähnlichen Merkmalen? Die Lösung: Keiner von allen oder, besser gesagt, alle zusammen – so zumindest die neue Idee von SCHRENK.

Neben diesen Konflikten innerhalb der frühen Hominiden wurden zudem ursprünglich als menschlich angesehene Fossilien zurückgestuft, da einige Merkmale auftauchten, die man vorher nicht gesehen hat und die dem Rang Homo nicht entsprechen (Homo habilis wird zu Australopithecus habilis, Homo rudolfensis zu Kenyanthropus habilis; vgl. Stud. Int. J. 6, 85-87; 8, 85-88).

Neben dem mosaikartig erscheinenden Fossilbefund erweist sich übrigens auch das Genom des heutigen Menschen als nicht leicht zu deuten. Verschiedene Chromosomenabschnitte ergeben unterschiedliche evolutionäre Schlußfolgerungen. Die Wissenschaftszeitschrift Nature (Band 421 [2003], S. 409) titelte neulich in einem Übersichtsbeitrag von Svante PÄÄBO: „The moasik that is our genome.“ Die dort u.a. beschriebenen verwirrenden Haplotypen-Muster sind jedoch mit dem derzeit bekannten Fossilbefund bisher nicht sinnvoll in Verbindung zu bringen.

Zum Inhaltsverzeichnis 

Evolution des Menschen: Wo, wann und wie?

Wenn es den einen Urahn also nicht gibt, dann müssen es – wenn Evolution stattgefunden hat – wohl verschiedene sein, welche dann gemeinsam den Menschen hervorgebracht haben (denn Evolution ist als unangefochtenes Erklärungsmodell zwar durch neue Daten modifizierbar, wird aber nicht grundsätzlich hinterfragt). Die neuen Ideen SCHRENKs sind in jedem Fall bemerkenswert und betreffen die drei bislang ungelösten Hauptfragen der Humanevolution, insbesondere: Wo ist der Mensch entstanden? Wann ist er entstanden? Wie ist er entstanden? Diese sollen im Folgenden kurz beleuchtet werden.

Wo? Überall und nirgendwo!
Der Ursprungsort des ersten Hominiden soll nun nicht mehr „irgendwo in Afrika“ gewesen sein (wobei jeder Paläanthropologe das „Irgendwo“ verständlicherweise in jeweils „seinem“ Grabungsgebiet sucht), sondern diesen einen Ort hat es nach der neuen Sicht der Dinge genausowenig gegeben, wie es den einen Hominiden gegeben hat. „Es“ ist an verschiedenen Orten in verschiedenen Gattungen geschehen: In der Zeit zwischen 4 und 7 MrJ, wo die Fossilüberlieferung der Hominiden beginnt, hat es nach derzeit anerkannten Datierungen und taxonomischen Vorstellungen mindestens vier Gattungen zwischen Zentral-, Ost- und Südafrika gegeben – der Entstehungsraum würde damit ein riesiges Areal von mehreren Millionen Quadratkilometern umfassen. Der Ursprungsort des Menschen ist nirgendwo konkret lokalisierbar, sondern vielmehr „überall in Afrika“.

Wann? Früher oder später und immer wieder!
Das „wann“ der Entstehung des Menschen war bislang starken Schwankungen unterworfen und u.a. ein Spiegelbild der zuweilen heftigen Konkurrenz zwischen Molekularbiologie und Morphologie. Während man vor 25 Jahren den gemeinsamen Vorfahren vor mindestens 15 MrJ ansetzte, fiel dessen Alter während der Dominanz der Molekularbiologie auf weit unter 5 MrJ, während es seit ca. 15 Jahren kontinuierlich wieder ansteigt. Momentan geht man von einer Spanne von 4 bis 8 MrJ aus. Während dieser langen Periode sollen die Ursprungshominiden gelebt haben, die die menschliche Gestalt gemeinsam hervorgebracht haben sollen. „Den“ einen Entstehungszeitpunkt gab es demnach nicht.

Wie? Mosaikartig vernetzt!
Schon seit geraumer Zeit bewegt sich die Paläanthropologie von der linearen Stammbaumvorstellung hin zur Idee eines Stammbusches (s.o.). Nun ist jedoch die Evolution des Menschen weder an einer konkreten Form noch an einem konkreten Ort festzumachen. Ganz im Zuge sozial- und wirtschaftspolitischer Wertvorstellungen scheinen ab jetzt in der Humanevolution die wichtigen Dinge vernetzt und gleichzeitig geschehen zu sein. Die Effektivität der simultanen Evolution auf der Spielwiese verschiedener Populationen, die alle Vorteile der Spezialisierung ideal und effektiv ausnützen, erscheint dem heutigen Menschen attraktiv: Teamwork statt Konkurrenz, Vernetzung statt einsamem Wettlauf.

Wenn die Idee SCHRENKs tatsächlich zum Stand der Diskussion werden sollte, dann müßte man sich keine Gedanken mehr machen, ob zuerst der aufrechte Gang und dann das Gehirn entstand oder umgekehrt – denn es geschah ja möglicherweise gleichzeitig an verschiedenen Orten. Die unterschiedlich evolvierten Individuen mußten sich nur finden, paaren und so ihre vorteilhaften Anpassungen kombinieren.

Zum Inhaltsverzeichnis 

Neue Probleme

Wie dies aber auf genetischer und ontogenetischer Ebene vorstellbar ist, erhebt sich nun als große Frage. Verschiedene Teilaspekte der menschlichen Gestalt, wie aufrechter Gang, menschliche Gesichtsmorphologie, großes Gehirn usw. sollen in verschiedenen Hominiden-Linien (ggf. mehrmals) unabhängig voneinander und an verschiedenen Orten entstanden sein. So sei zum Beispiel in einer Vorform der menschlich-aufrechte Gang und in einer anderen das menschliche Gehirn evolviert, wobei die erstere Form ein kleines Gehirn und die letztere die Fortbewegungsweise auf Bäumen beibehalten hätte. In ihrer Verknüpfung durch Hybridisierung sollen sie dann den Menschen hervorgebracht haben. (Bislang gibt es jedoch keinen frühen Hominiden mit einem typisch menschlichen aufrechten Gang oder mit einem menschlichen Gehirn2, erst die Gattung Homo weist beides gemeinsam und in menschlicher Ausprägung auf.)

Sicher ist, daß – unter der Annahme, daß diese beiden Merkmalskomplexe evolviert sind – sehr viele Struktur- und Regulationsgene (und möglicherweise auch nicht auf DNA-Ebene faßbare Faktoren?) beteiligt waren. Die beiden Evolutionsprozesse benötigen daher geraume Zeit, und die daraus resultierende lange Isolation der beiden Hominidenpopulationen führte zu weiteren Unterschiede in anderen Teilen des Genoms. Mit zunehmender Verschiedenheit und Spezialisierung zweier Organismen erhöht sich die Wahrscheinlichkeit morphogenetischer Inkompatibilität.

Zwischen Arten eines Grundtyps (innerhalb einer Familie) ist genetische Kompatibilität zwar bekannt (obgleich meist Unfruchtbarkeit des Mischlings verschiedener Gattungen vorliegt), doch handelt es sich hierbei generell um sehr ähnliche Baupläne. Wenn es sich um die Zusammenführung so stark divergenter morphologischer Komplexe wie affen- bzw. menschenähnliche Funktionsmorphologien handelt, sind schwerwiegende genetische Inkompatibilitäten zu erwarten. Man kann nicht einfach davon ausgehen, daß ein lebensfähiger und zudem auch noch konkurrenzfähiger Mischling entsteht. Wie die ontogenetische Lösung zu diesem Problem aussehen könnte, ist unklar. Eine begründete Aussage läßt sich jedenfalls bislang nicht machen.

Zum Inhaltsverzeichnis 

Bewertung

Die neue Spekulation, daß die Humanevolution kein missing link mehr benötigt, sondern von der Summe aller Entwicklungen profitiert, wirft also neue, bedeutsame Fragen auf, und viele „alte“ fundamentale Rätsel der Evolution des Menschen bleiben bestehen. Doch uns beschäftigt vor allem ein anderer Gesichtspunkt: Jahrzehntelang wurde die Notwendigkeit und die tatsächliche Existenz von missing links in der Humanevolution als nicht bezweifelbare Tatsache vermittelt. Kritische Anfragen wegen der fehlenden Existenz echter Zwischenglieder wurden mit unterschiedlichen Argumenten abgewehrt. Und nun bezeichnet Friedemann SCHRENK diese solide eingebürgerte Lehrmeinung als eine „regelrechte Verblendung“. Das ist doch vor allem für einen Laien, der in Sachen Evolutionsbiologie den Lehrbüchern immer vertraut hat, schwer verdaulich. Es wäre nicht ganz unverständlich, wenn dieser nun gar an der Glaubwürdigkeit von Wissenschaft insgesamt zu zweifeln beginnt.

Diese Situation erscheint uns als Paradebeispiel dafür, welche Konsequenzen es hat, wenn evolutionäre Spekulationen als wissenschaftliche Tatsachen behandelt und als solche gelehrt werden. Damit keine Mißverständnisse entstehen: Gegen weitreichende Spekulationen und die Aufstellung mutiger, ja wilder Hypothesen ist nichts einzuwenden – sie sind für fruchtbare Wissenschaft geradezu lebenswichtig. Aber man muß sie – insbesondere gegenüber dem Laien – unmißverständlich als solche kenntlich machen. Es sollte eigentlich von einem Wissenschaftler (und, was wesentlich schwieriger zu sein scheint, auch von Wissenschaftsjournalisten) nicht zuviel verlangt sein, der Versuchung zu widerstehen, Spekulationen, Meinungen und Wunschvorstellungen voreilig als wissenschaftlich erwiesene Tatsachen darzustellen.

Es bleibt zu hoffen, daß Friedemann SCHRENK seine gewagten und interessanten Hypothesen in Zukunft vorsichtiger formulieren wird, als es seine Kollegen das in der Vergangenheit getan haben.

Zum Inhaltsverzeichnis 

Anmerkungen

1 Es wäre eigentlich zu klären, was unter einem „missing link“ genau zu verstehen ist. Der Begriff ist hier (wie auch sonst oftmals) nicht konkret definiert.

2 Für keinen der beiden Merkmalskomplexe „aufrechter Gang“ und „menschliches Gehirn“ gibt es auf genetischer Ebene nachvollziehbare Evolutionsmechanismen, auch dann nicht, wenn diese isoliert voneinander entstanden sein sollten. Die dazugehörigen morphogenetischen Programme sind unbekannt, so daß sich keine Angaben darüber machen lassen, welche Veränderungen ein „affenähnliches“ Programm auf genetischer Ebene erfahren muß, um eine spezifisch menschliche Funktionsmorphologie zu erzeugen.


zum Seitenanfang

Studium Integrale Journal 10. Jg. Heft 2 - September 2003