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Geheimnisvolle Octopussy – Wie wurden die Kraken, was sie sind?

von Hans-Bertram Braun

Studium Integrale Journal
23. Jahrgang / Heft 1 - Mai 2016
Seite 29 - 31


Zusammenfassung: Die modernen Methoden der Gensequenzierung erlauben es Forschern heutzutage relativ leicht, nach den genetischen Grundlagen für Besonderheiten der Codierung von Bauplänen im Tier- und Pflanzenreich zu suchen. Kraken (Oktopusse) sind Lebewesen mit einer ganzen Reihe von Eigentümlichkeiten, sodass es sich ganz sicher lohnt, einen detaillierten Blick auf ihre Erbsubstanz zu werfen.


Wie ihre zehnarmigen Klassenkameraden (Sepia und Kalmare aus der Klasse der Kopffüßer) sind die Kraken Meister der Tarnung, sie können ihr Äußeres in kürzester Zeit farblich und in der Musterung verändern, um es an die Umgebung anzupassen oder um Artgenossen Stimmungen zu signalisieren. Sie können sich hinter einer Wolke ihrer namensgebenden Tinte verstecken („Tintenfische“) und derart geschützt die Flucht per Rückstoßantrieb antreten und sie verfügen über die besten Augen aller Wirbellosen, komplett mit Linse und Pupille. In der Schule lernt man sogar, ihre Augen seien sinnvoller angeordnet als die der Wirbeltiere, was sich aber inzwischen als Fehleinschätzung erwiesen hat. Die mehrere hundert Saugnäpfe an den Armen dienen nicht nur zum Greifen und Festhalten; dicht besetzt mit Chemorezeptoren machen sie die Fangarme sozusagen zur verlängerten Zunge, mit der Tintenfische die Umgebung sehr genau „schmecken“ können. Zudem befähigt ihr ausgefeiltes Nervensystem (6x mehr Neuronen als ein Mäusegehirn, ein Großteil davon in den in alle Richtungen beweglichen Armen) die Kraken dazu, Aufgaben zu lösen, die man sonst nur höheren Wirbeltieren zutraut. Sie sind sehr lernfähig und schaffen es z.?B. sogar, Schraubdeckel zu öffnen, um an Beutetiere zu gelangen oder aus einem Labyrinth herauszufinden. Im Gegensatz zu den anderen Tintenfisch-Familien der Sepien und Kalmare, die ein zumindest kleines festes Innenskelett, den Schulp, besitzen, sind Kraken voll flexibel und können sich durch kleine Öffnungen zwängen. Wenn man nun bedenkt, wie vergleichsweise einfach andere Vertreter der Weichtiere (wie Schnecken und Muscheln) daherkommen, ist es durchaus verständlich, dass sich ein Team von Forschern verschiedener Universitäten aus den USA, Japan und Deutschland daran gemacht hat, durch die erstmalige Entschlüsselung der Erbinformation einer Krakenart (Octopus bimaculoides, Kalifornischer Zweipunktkrake, Abb. 1) nach den Grundlagen dieser besonderen Fähigkeiten zu suchen.

Abb. 1: Die Untersuchungen wurden am Kalifornischen Zweipunktkraken (Octopus bimaculoides) vorgenommen. Bild: © naturepl.com.

Vermehrtes Auftreten von zwei Proteinklassen

Der Titel der Veröffentlichung in der renommierten Wissenschaftszeitschrift Nature verspricht, Einblicke in die Evolution der besonderen Oktopus-Fähigkeiten zu geben. „The octopus genome and the evolution of cephalopod neural and morphological novelties“. Tatsächlich spiegelt sich im Genom, d. h. in der gesammelten Erbinformation des Kalifornischen Zweipunktkraken, die Besonderheit des Trägers wider. Mit über 33 000 Genen, die für Proteine codieren, scheint der Oktopus mehr unterschiedliche Proteine herzustellen als der Mensch (25 000). Obwohl die Grundausstattung an Genen vergleichbar ist mit der anderer Weichtiere, treten besonders die Gene zweier Proteinklassen stark vermehrt auf: Protocadherine und C2H2 Zink-Fingerproteine. Erstere spielen bei Wirbeltieren eine wichtige Rolle in der Entwicklung des Nervensystems und in der Spezifität der Synapsen, also der Vermittlungsstellen zwischen Nervenzellen. 168 solcher Gene wurden beim Oktopus gefunden, während andere Weichtiere wie Schnecken oder Muscheln gerade einmal 17-25 davon haben. Wirbeltiere haben ebenfalls viele verschiedene Protocadherine, codiert in nur etwa halb so vielen Genen wie beim Oktopus, hier wird die Vielfalt allerdings nicht so sehr durch die Anzahl verschiedener Gene erzeugt, sondern durch unterschiedliche Ablesung oder unterschiedliches Ausschneiden (Spleißen) der Produkte der abgelesenen Gene.

Abb. 2: Schematische Darstellung der Anatomie von Octopus bimaculoides. Die Gewebe, die für die Analyse des Transkriptoms (= Summe aller zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Zelle von der DNA in RNA umgeschriebenen Gene) untersucht wurden, sind farblich wie folgt hervorgehoben: Gelb: Herz, Niere, Mitteldarmdrüse; pfirsichfarben: Geschlechtsorgane; orange: Retina; rötlichbraun: Sehlappen, hell-/mittelrosa: Teile des Gehirns, lila: Speicheldrüse; rot: axialer Nervenstrang, grau: Saugorgane; braun gefleckt: Haut. (Aus Albertin et al. 2015; Creative Commons license)

Bekanntlich ist die genetische Ausstattung jeder Zelle eines Organismus praktisch identisch, da jede eine Kopie der befruchteten Eizelle ist. Allerdings werden andere Gene in den jeweiligen Zellen unterschiedlicher Gewebe abgelesen, was zur Verschiedenartigkeit von Zellen und Geweben innerhalb eines Organismus führt. Die Wissenschaftler untersuchten die Gen-Ablesung (durch Sequenzierung der messenger-RNA) unter anderem in Zellen des Gehirns, der Netzhaut, der Nervenstränge in den Fangarmen, der Geschlechtszellen, der Verdauungsorgane und der Saugnäpfe. Auch hier konnten sie feststellen, dass die Protocadherin-Gene besonders in den Zellen des Nervensystems abgelesen wurden, sie könnten also tatsächlich etwas mit der besonderen Intelligenz des Oktopus zu tun haben.

Die zweite Klasse von Genen, die in ungewöhnlich hoher Anzahl gefunden wurde, sind C2H2 Zink-Fingerproteine. Hier wurden 1800 Gene gefunden, im Vergleich zu 200-400 in anderen Wirbellosen und 500-700 in Säugetieren, bei denen sie die zweithäufigste Genfamilie darstellen. Auch sie kommen vor allem in Nervenzellen vor sowie in sich entwickelnden Embryonen. Sie können sehr spezifisch wiederum an DNA oder RNA binden, spielen also eine Rolle in der Regulation von Genen.

Besonders ausführlich wurden die beiden oben genannten Genklassen diskutiert, allerdings erwähnen die Autoren auch, dass sie Hunderte tintenfischspezifische Gene gefunden hätten, die oft auch in den typischen Geweben wie Saugnäpfen, farblich veränderbarer Haut und Nervenzellen besonders aktiv waren.

Den Wissenschaftlern gelang es also auf beeindruckende Art, spezifische Merkmale in der genetischen Ausstattung des Oktopus zu beschreiben, vor allem eine massive Vervielfachung innerhalb zweier spezieller Genfamilien. Die Spezifität dieser Genfamilien scheint auch mit den äußerlichen und verhaltensmäßigen Besonderheiten zusammenzuhängen, vor allem dem komplexen Nervensystem. Entsprechend suchen die Autoren hier einen Schlüssel zum Verständnis ihrer Entstehung:

„Unsere Analyse legt nahe, dass eine substanzielle Vermehrung einer Handvoll von Genfamilien, zusammen mit ausgeprägter Neuordnung von Genomverbindungen und repetitiven Inhalten, eine kritische Rolle gespielt hat in der Evolution der morphologischen Neuerungen der Kopffüßer, einschließlich ihres großen und komplexen Nervensystems.“

Wie die vielen neuen Kraken-Gene evolutiv entstanden sein könnten, wird nicht erklärt.

Beschreibend wurde also der erwartete Zusammenhang zwischen Aussehen und Verhalten einerseits und der genetischen Ausstattung andererseits hergestellt. Allerdings gelingt es den Autoren im Gegensatz zu dem, was der Titel der Publikation erwarten lässt, gerade nicht, zu erklären, wie diese vielen neuen Gene evolutiv entstanden sein könnten. Explizit stellen sie schon in den ersten Sätzen der Zusammenfassung fest, dass ihre genetischen Daten nicht die These unterstützen, dass die neuen Gene z.?B. durch Verdoppelung des kompletten Genoms entstanden sein könnten. (Bei den Wirbeltieren wird ein solcher Vorgang angenommen.) Dabei könnte die Kopie dann theoretisch als „Spielwiese der Evolution“ zur Entwicklung von Neuem ohne Gefahr von essenziellen Ausfällen veränderter Gene dienen. Vielmehr führen sie die massive Vermehrung der Gene innerhalb einiger Gen-Familien und das Erscheinen Hunderter neuer tintenfischspezifischer Gene gleichsam aus dem Nichts als Erklärung für deren Vorhandensein an. Das ist unlogisch, denn genau dieser Vorgang müsste doch erklärt werden:

„Andere Mechanismen als Gesamt-Genom-Verdoppelung können genetische Neuheiten vorantreiben, einschließlich der Erweiterung existierender Genfamilien, Evolution neuer Gene, Veränderung von genetischen regulatorischen Netzwerken und Reorganisation des Genoms durch Aktivität von Transposons. Innerhalb des O. bimaculoides-Genoms fanden wir Hinweise für alle diese Mechanismen, einschließlich der Erweiterung mehrerer Genfamilien, einer Fülle von kraken- und tintenfischspezifischen Genen und extensiver Genom-Umorganisation.“

Was sind also die Daten und was sind Mutmaßungen?

Mithilfe neuester Techniken gelang es, das Genom eines Kraken zum größten Teil zu entschlüsseln und auch Korrelationen zwischen der Verteilung und Häufigkeit von Genen und den besonderen Fähigkeiten dieser wunderbaren Tiere herzustellen. Es wurden genetische Befunde beschrieben, die verstehen helfen, warum ein Krake anders aussieht und sich anders verhält als eine Muschel. Es ist zu bewundern, wie Wissenschaftler der schier unglaublichen Komplexität auf die Spur kommen, die sich in den Zusammenhängen zeigt zwischen Genen, deren Umschreibung in mRNA und Übersetzung in Proteine, die wiederum Gene regulieren, sie unterschiedlich ablesen und die Ableseprodukte modifizieren, und all das auf spezifische Art in unterschiedlichen Zellen und Geweben und zeitlich verschieden im Verlauf der individuellen Entwicklung eines Organismus.

Überzeugende Mechanismen für konvergente Evolution komplexer Merkmale wurden bisher experimentell nicht nachgewiesen.

In Bezug auf die Ergründung des „Wie“ der Natur mit all ihren wundervollen Facetten sind Wissenschaftler also sehr erfolgreich, wenngleich vom vollen Verständnis der Zusammenhänge wahrscheinlich noch meilenweit entfernt. In Bezug auf das „Woher“ der unfassbaren Komplexität liefert diese Publikation allerdings ernüchternd wenig, beziehungsweise gar nichts Konkretes:

Der interessante Befund, dass beim Oktopus wie bei den Säugetieren Protocadherin-Gene in großer Anzahl und Vielfalt vorhanden und wahrscheinlich für die erstaunlichen neurologischen Fähigkeiten mitverantwortlich sind, wird als eindrucksvolles („striking“) Beispiel für konvergente Evolution präsentiert. Wobei man konvergente, also unabhängige, Entstehung in nicht näher verwandten Klassen eher als das Gegenteil einer Erklärung durch Evolution deuten kann, denn sie widerspricht gemeinsamer Abstammung (dieses Merkmals), und überzeugende Mechanismen für konvergente Evolution komplexer Merkmale wurden bisher experimentell nicht nachgewiesen.

Die vielleicht vom Titel der Publikation geweckte Erwartung, das Genom des Oktopus gebe Aufschluss darüber, wie dieses faszinierende Lebewesen zu dem wurde, was es ist („evolution of novelties“), wird enttäuscht. Massive Erweiterungen von Genfamilien und eine Fülle neuer Gene liefern Hinweise darauf, warum Kraken sind, wie sie sind. Wie es zu diesen genetischen Neuigkeiten kommen konnte, bleibt ungeklärt. Dass die Autoren diese genetischen Neuigkeiten, also das Ergebnis einer hypothetischen Evolution, zum Mechanismus eben dieser Evolution erklären, ist nicht gerechtfertigt. Tatsächliche Mechanismen müssten erklären, wie Hunderte neuer Gene aus dem Nichts entstehen oder wie Genfamilien sich massiv erweitern können, um nachzuvollziehen, wie Oktopus wurde, was er ist. Tatsächlich aber bleibt die Herkunft der Komplexität, die die Kraken von anderen Weichtieren unterscheidet, vollkommen ungeklärt.


Literatur

Albertin CB, Simakov O, Mitros T, Wang ZY, Pungor JR, Edsinger-Gonzales E, Brenner S, Ragsdale CW & Rokhsar DS (2015)
The octopus genome and the evolution of cephalopod neural and morphological novelties. Nature 524, 220-224.


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