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Citratnutzung bei E. coli und die Wiederholbarkeit der Evolution

von Daniel Vedder

Studium Integrale Journal
23. Jahrgang / Heft 2 - Oktober 2016
Seite 100 - 103


Zusammenfassung: Das Langzeit-Evolutionsexperiment (LTEE) mit dem Bakterium Escherichia coli sorgt erneut für Zündstoff. Eine kürzlich veröffentlichte unabhängige Untersuchung nahm das Vorzeigeergebnis des LTEE – neu erworbene Citratnutzung bei E. coli – unter die Lupe und löste damit eine heftige Diskussion aus. Unter anderem geht es dabei um die Bedeutung der zeitlichen Abfolge der Evolution und die Entstehung neuer Merkmale.


Inhalt
•  Bisherige Ergebnisse
•  Neue Diskussion
•  Bewertung
•  Literatur


Bisherige Ergebnisse

Eines der bekanntesten Projekte der experimentellen Evolutionsbiologie ist das Langzeit-Evolutionsexperiment (Long Term Evolution Experiment, LTEE) mit dem Bakterium Escherichia coli (von dem manche Stämme im menschlichen Darm aktiv sind), das von der Arbeitsgruppe um Richard Lenski an der Michigan State University durchgeführt wird. Seit es 1988 begonnen wurde, verfolgen die Forscher die evolutionäre Entwicklung von zwölf anfangs identischen Bakterienkulturen (siehe Vedder 2014 für eine ausführlichere Zusammenfassung).

Eine Veröffentlichung aus Lenskis Labor verursachte 2008 viel Wirbel; die Autoren berichteten über das Auftauchen eines aeroben* Citrattransporters in einer ihrer Kulturen (Blount et al. 2008). Normalerweise ist E. coli nicht in der Lage, in einer sauerstoffhaltigen Umgebung Citrat als Kohlenstoffquelle zu nutzen. Zwar könnte es verstoffwechselt werden, jedoch wird der für den Citratimport zuständige Transporter nur unter anaeroben* Bedingungen gebildet. Vor dem Bericht von Blount et al. war nur ein einziger Fall bekannt, in dem eine Mutation E. coli zur aeroben Citratnutzung befähigt hatte (vgl. Hall 1982 – eine solche Mutante wird als Cit+ bezeichnet, der Wildtyp als Cit–). In späteren Untersuchungen (Blount et al. 2012) konnte dann auch der zugrunde liegende genetische Mechanismus aufgeklärt werden.

Die Ausbildung des Cit+-Phänotyps erfolgt in drei Schritten, die von Blount et al. als Potenzierung, Umsetzung und Verbesserung bezeichnet werden (im Original: Potentiation, Actualization, Refinement). Das Gen citT, welches für den Citrattransporter codiert, liegt auf einem Operon*, das gewöhnlich nur unter anaeroben Bedingungen abgelesen wird. Während der Potenzierung wird dieses Operon ein- oder mehrfach dupliziert. Somit steigt die Wahrscheinlichkeit (das Potenzial), dass der folgende Schritt – die Umsetzung – erfolgt. Bei der Umsetzung kommt es dann zu einer Deletion (Verlust), bei der über mehrere Genregionen hinweg ein längerer DNA-Abschnitt gelöscht wird. Unter Umständen kann eine solche Deletion dazu führen, dass das citT-Gen mit einem anderen Operon verschmilzt, dessen Promoter auch eine aerobe Transkription erlaubt (ein sogenanntes promoter-capture-Ereignis). Nun kann das Bakterium auch unter aeroben Bedingungen den Citrattransporter synthetisieren. In der letzten Phase, der Verbesserung, können noch diverse andere Mutationen auftreten, die die neu erworbene Fähigkeit effizienter machen.

Das ständige Auftauchen einer immer gleichen Mutante könnte Hinweis darauf sein, dass die Anpassungsfähigkeit von E. coli begrenzt und vorprogrammiert ist.

Im LTEE dauerte es über 30 000 Generationen (15 Jahre), bis ein Stamm den Cit+-Phänotyp entwickelte. Unter anderem ist dieser lange Zeitraum dafür verantwortlich, dass dieses Ergebnis oft von Befürwortern der Evolutionstheorie als Beispiel für Makroevolution ins Feld geführt wird. Entsprechend wird der Cit+-Phänotyp als eine große evolutionäre Neuheit dargestellt – Blount et al. sprechen sogar von einer „key innovation“. (Für eine Analyse dieser Argumente siehe Binder 2012 und nachfolgende kritische Betrachtung.)

Zuletzt ist in diesem Zusammenhang auch noch ein evolutionsbiologisches Konzept interessant, das Blount et al. „historical contingency“ nennen (etwa: historische Bedingtheit). Kurz gesagt drückt dieses Konzept aus, dass die gegenwärtige Entwicklung von früheren Ereignissen abhängt. Ereignisse in der Vergangenheit können neue evolutionäre Möglichkeiten eröffnen oder auch verschließen. Im LTEE ist es etwa die Potenzierung, die das spätere Auftauchen von Cit+ ermöglicht. Die elf Bakterienkulturen, die die Potenzierung nicht durchlaufen haben, haben daher auch nach über 60 000 Generationen noch keinen Cit+-Phänotyp hervorgebracht. Ohne Potenzierung erfolgt keine Umsetzung. Dieses Konzept legt nahe, dass Evolution über lange Zeiträume gesehen nie genau gleich ablaufen wird – selbst kleine, zufällige Änderungen können in der weiteren Entwicklung große Unterschiede hervorrufen.

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Neue Diskussion
Abb. 1: Schematischer Mechanismus der Cit+-Entstehung. (Nach Roth & Maisnier-Patin 2016)

Nun liegt eine Arbeit vor, in der drei Forscher die Entstehung von Cit+ replizieren (Van Hofwegen et al. 2016). Sie konnten den oben beschriebenen Evolutionsmechanismus bestätigen – jedoch benötigte die Entwicklung von Cit+ in ihrem Labor weniger als 100 Generationen. Im kürzesten Fall dauerte es sogar nur zwölf Generationen, bis das neue Merkmal auftrat. Den großen Kontrast zu den über 30 000 Generationen des LTEE erklären die Autoren plausibel mit Unterschieden in den von ihnen gewählten Randbedingungen für das Experiment: Sie hatten im Vergleich zu Lenskis Labor eine sehr viel stärkere Selektion auf Cit+ eingebaut.

Die eigentliche Diskussion darüber begann erst, als die drei Autoren ihre Ergebnisse interpretierten. Unter anderem behaupteten sie, dass die schnelle Entstehung von Cit+ die Hypothese von der historischen Bedingtheit schwächen würde. Außerdem argumentierten sie, dass Cit+ keine neue genetische Information erfordert, da es sich lediglich um die Aktivierung eines (schon vorhandenen) stillen Gens handelt. Die Aussage, es würde sich dabei um eine neuartige Funktion handeln, sei damit hinfällig.

Ähnliche Schlüsse wie Van Hofwegen et al. zogen auch zwei andere Autoren, die den Artikel in der gleichen Ausgabe des Journal of Bacteriology kommentierten (Roth & Maisnier-Patin 2016). Daraufhin meldeten sich Lenski und Blount in einem Blogbeitrag zu Wort, um die neue Studie aus ihrer Sicht zu bewerten (Lenski & Blount 2016). Sie lobten die wissenschaftliche Arbeit von van Hofwegen et al., bemängelten jedoch ihre Schlussfolgerungen. Insbesondere zeigten sie auf, dass die historische Bedingtheit nicht auf dem Versuchsaufbau oder auf der Dauer eines Experiments beruhte, sondern auf dem Mechanismus, wie eine neue Eigenschaft entsteht. Im Falle von Cit+ sei nachgewiesen, dass es ohne den Potenzierungsschritt nicht geht – folglich läge eindeutig historische Bedingtheit vor. Auch kritisierten sie die Aussage, dass keine genetische Information entstanden sei. Die Tatsache, dass ein Bakterium, das ursprünglich kein Citrat verstoffwechseln konnte, dazu nun in der Lage ist, sei für sie Beweis genug, dass irgendwo neue Information hinzugekommen sein muss.

Abschließend griff auch Michael Behe, der aus der Diskussion um Intelligent Design bekannte amerikanische Biochemiker, in die Debatte ein. In einem weiteren Blogbeitrag (Behe 2016) betonte er, dass die wiederholte, vorhersagbare, kurzfristige Entstehung von Cit+ die Besonderheit dieser Neuerung doch deutlich schmälerte. Das ständige Auftauchen einer immer gleichen Mutante sei vielmehr ein Hinweis darauf, dass die Anpassungsfähigkeit von E. coli begrenzt ist und vorprogrammiert zu sein scheint.

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Bewertung

Wie soll man diese Diskussion nun bewerten? Zunächst kann festgehalten werden, dass bei der Entstehung des Cit+-Phänotyps in E. coli tatsächlich historische Bedingtheit wie oben beschrieben beteiligt ist. Die Argumente, die dagegen hervorgebracht wurden, sind logisch nicht haltbar und scheinen auf einem falschen Verständnis des Konzepts zu beruhen. Eine ganz andere, noch ungeklärte Frage ist jedoch, wie weitreichend der tatsächliche Einfluss der historischen Bedingtheit auf die Evolution ist. Blount et al. haben gezeigt, dass es sie gibt – wie wichtig sie ist, bleibt weiterhin offen.

Der Knackpunkt dieser Debatte dreht sich nach wie vor um die Frage, ob neue genetische Information entstanden ist. In gewisser Hinsicht muss die Antwort hier Ja lauten. Schließlich ist die Position eines Gens im Erbgut auch Information; es zu verschieben bedeutet folglich, neue Information in das System einzubringen. Jedoch ist das Ausmaß dieser neuen Information äußerst gering – in der Tat ist es schon fragwürdig, von einem „Informationszuwachs“ zu reden. Nicht zuletzt sollte man auch beachten, dass eine Deletion, sprich ein Verlust schon vorhandener Information, nötig war, um die neue Information ins Genom einzuspeisen. Die eigentlich wichtigen Informationen, das Gen für den Citrattransporter und der benötigte Promoter, waren hingegen schon lange vorhanden und mussten nur angeschaltet werden. Die Citrat-Verwertung als „key innovation“ zu bezeichnen, ist und bleibt also ungerechtfertigt.

Die Citrat-Verwertung als „key innovation“ zu bezeichnen, ist und bleibt ungerechtfertigt.

Genau dieser letzte Punkt ist aus schöpfungstheoretischer Sicht allerdings sehr interessant. Mehrere nahe Verwandte von E. coli sind in der Lage, Citrat auch unter aeroben Bedingungen zu verwenden. E. coli kann das nicht, trägt aber die Anlagen dafür in seinem Erbgut. Könnte es sein, dass der Cit+-Phänotyp keine neue Funktion darstellt, sondern eine alte, die lediglich „wiederentdeckt“ wurde? Möglicherweise handelt es sich hierbei um eine Eigenschaft des Grundtyps von E. coli, die diese Art nur „verlernt“ hatte. Der Bezug auf die Grundtypenbiologie ist zwar Spekulation – bietet aber dennoch eine sinnvolle Deutung der vorliegenden Daten.

Das LTEE bleibt ein spannendes Experiment, das viele faszinierende Einblicke liefert. Die Citratnutzung bei E. coli ist ohne Zweifel sein bisher aufregendstes Ergebnis, mit wichtigen Implikationen für die Evolutionsbiologie. Trotz oder vielleicht gerade wegen neuer Forschung kann aber selbst dieses Ergebnis nicht als Beweis für Makroevolution gelten.

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Literatur

Behe M (2016)
Richard Lenski and the citrate hype – now deflated. http://www.evolutionnews.org/2016/05/richard_lenski102839.html
Binder H (2012)
Von der Citrat-Verwertung zur Entstehung des Auges? Genesisnet News vom 23. 10. 2012, http://www.genesisnet.info/schoepfung_evolution/n187.php
Blount ZD, Barrick JE, Davidson CJ & Lenski RE (2012)
Genomic analysis of a key innovation in an experimental Escherichia coli population. Nature 489, 513-518.
Blount ZD, Borland CZ & Lenski RL (2008)
Historical contingency and the evolution of a key innovation in an experimental population of Escherichia coli. Proc. Natl. Acad. Sci. USA 105, 7899-7906.
Hall BG (1982)
Chromosomal mutation for citrate utilization by Escherichia coli K-12. J. Bacteriol. 151, 269-273.
Lenski RL & Blount ZD (2016)
On the evolution of citrate use. https://telliamedrevisited.wordpress.com/2016/02/20/on-the-evolution-of-citrate-use/
Roth JR & Maisnier-Patin S (2016)
Reinterpreting long-term evolution experiments: Is delayed adaptation an example of historical contingency or a consequence of intermittent selection? J. Bacteriol. 198, 1009-1012.
Van Hofwegen DJ, Hovde CJ & Minnich SA (2016)
Rapid evolution of citrate utilization by Escherichia coli by direct selection requires citT and dctA. J. Bacteriol. 198, 1022-1034.
Vedder D (2014)
25 Jahre Evolution in vitro. Stud. Integr. J. 21, 36-38.


Studium Integrale Journal 23. Jg. Heft 2 - Oktober 2016